Das Probetraining und der Leichnam

„Power Yoga?“ Mein Kollege ist fassungslos: „Ich soll ins Power Yoga kommen?“ „Warum nicht?“, entgegne ich, „es würde deinem vom Fussball einseitig geschädigten Körper guttun, wenn du ihn etwas ganzheitlicher belasten und entspannen würdest.“ „Wenn hier jemand geschädigt ist, dann du! Power Yoga: Das sind doch schon begrifflich Widersprüche zuhauf: neudeutsche „Power“ aus dem Englischen und altindisches „Yoga“ aus dem Sanskrit, wie soll das zusammengehen?“

„Du kannst ja einmal ins Probetraining kommen, dann siehst du…“ „Ich sehe in „Power Yoga“ einen weiteren Widerspruch“, werde ich unterbrochen, „Ziel der philosophischen Yoga-Lehre ist, den Menschen von der Last der Körperlichkeit zu befreien und nicht, den Körper zu ‚empowern’.“ „Du weißt ja mehr über Yoga als ich.“, stelle ich etwas konsterniert fest. „Na ja, eine frühere Freundin von mir hat…“ nuschelt mein Gegenüber etwas in den Dreitagebart, bevor er laut zum nächsten Gegenargument ausholt: „Ausserdem kenne ich ausser dir nur Frauen, die Yoga machen!“

„In der Stunde, in der ich im Fitness-Treffpunkt bin, hat es tatsächlich überwiegend Frauen. Wir Männer sind meist nur zu dritt. Damit man unsere ungeschickten Verrenkungen nicht so sieht, gehen wir immer in die hinterste Reihe. Das ist übrigens auch in anderer Hinsicht ein Standortvorteil: Er ermöglicht unauffällige Ausblicke auf die beweglichen, durchtrainierten Frauen vor uns.“ „Wann ist das Probetraining?“

Um mein Wissen über Power Yoga etwas zu fundieren, lese ich vor dem nächsten Training in Kia Meaux’s „Power Yoga – Neue Kraft für Körper und Geist“. Bereits vor über 2000 Jahren wurde Yoga als „Achtgliedriger Pfad“ beschrieben: Die ersten fünf Stufen beziehen sich auf die körperlichen Entwicklungsstufen der Yoga-Erfahrung, die übrigen drei Stufen auf die innere Entwicklung.

„Im Power Yoga bewegen wir uns auf den Stufen drei (Asana – die Yoga-Positionen) und vier (Pranayama – die Regulierung der Atmung)“, bestätigt mir die kompetente Leiterin des Trainings, nachdem ich ihr den Trainings-Probanden vorgestellt habe. Nach dem Ausrollen der Yoga-Matte lege ich mich auf den Rücken und lasse mich von entspannender Musik berieseln, während der Ventilator an der Decke sich gemächlich dreht.

Dehnungen im Schneidersitz gehen in ruhige, harmonische Abfolgen von Positionen über. Mehrmals heben wir dabei beim Einatmen die Arme seitlich über den Kopf, drücken die Handflächen gegeneinander und blicken auf die Daumen: Surya-Namaskar, „der Sonnengruss“. Bei der Übergangsbewegung von der „Heuschrecke“ zum „Bogen“, die in einem Liegestütz endet, blicke ich aus den Augenwinkeln zum Probanden rechts von mir. Er grinst mir zu.

Beim „Baum“, einer Gleichgewichtsübung, bei der man sich nach Meaux „wie ein Baum zwischen Himmel und Erde befindet“, fühle ich mich der Erde wesentlich näher als dem Himmel; beim „halben Lotus im Langsitz“ zweifle ich, ob ich den rechten Fuss je wieder vom linken Bein und den rechten Arm je wieder hinter dem Rücken hervorbringe; beim „Kranich“, einem Handstand mit angewinkelten, gespreizten Beinen, falle ich auf den Kopf.

Die Stunde auf und neben der Yoga-Matte endet in Shavasana, der „Position der vollständigen Ruhe“: Ausgestreckt und entspannt liege ich auf dem Rücken, die Handflächen nach oben und die Füsse nach aussen gerichtet. Ich drehe mich zum Kollegen rechts von mir. Er liegt in seinem Schweiss und erinnert mich daran, was „Shava“ im Sanskrit bedeutet: Leichnam.

Markus Kirchhofer, Lehrer und Autor aus Oberkulm, verrenkt sich einmal wöchentlich beim Power Yoga