Es ist normal, verschieden zu sein

Es ist normal, verschieden zu sein

Samstag Nachmittag unter dem Sheddach der Pädagogischen Hochschule: Zwei Dutzend Lehrkräfte sitzen an Tischen, auf denen sich Ordner, Bücher und Dossiers stapeln. Vor zweieinhalb Monaten, im ersten Kursteil, haben sie das umfangreiche Lehrmittel „Sprachwelt Deutsch“ kennen gelernt. In der Zwischenzeit haben sie aus dem Jugendsachbuch ein Kapitel ausgewählt und damit Unterricht geplant und/oder durchgeführt.

Heute stellen die Lehrerinnen und Lehrer ihre Planungen vor und tauschen Erfahrungen aus. Die schriftlichen Unterlagen, die sie mir als Kursleiter zum Kopieren geschickt haben, umfassen eine bis fünfundzwanzig Seiten. Einige bringen sie direkt in den Kurs, andere stellen ihre Erfahrungen mündlich zur Verfügung.

Ausgebrütet unter demselben Sheddach, brachte das Departement Bildung, Kultur und Sport diesen Herbst einen „Bewertungsraster zu den schulischen Integrationsprozessen an der Aargauer Volksschule“ heraus: Acht Leitsätze mit Merkmalen zu vier verschiedenen Qualitätsstufen. Erster Leitsatz: „Vielfalt unter Schülerinnen und Schülern gilt als selbstverständlich und prägt sowohl die Schulkonzepte wie auch die Schul- und Unterrichtskultur“.

Das Thema „Sprache und Magie“ hat gleich drei Kursteilnehmende magisch angezogen.
„Meine Schülerinnen und Schüler habe ich Märchenbücher mit Zaubersprüchen in die Schule bringen lassen. Später haben sie einen Text verfasst, in dem ein selber erfundener Zauberspruch vorkam.“ „Beim Hexeneinmaleins aus Goethes „Faust“ und beim Hexengebräu aus Shakespeares „Macbeth“ auf Seite 130 war meine Klasse etwas überfordert.“ „Ich habe sie den „Zauberlehrling“ vortragen lassen, einen Teil davon auswendig.“ „Habt ihr Tomi Ungerers Zeichnung dazu gesehen? Fanden die Kinder toll!“. „Auf youtube findet ihr „disney fantasia“ mit der Musik von Paul Dukas. Mein Auftrag war, die Zauberlehrling-Strophen den Musikstrophen zuzuordnen.“

Engagiert und kompetent kommentieren die Lehrkräfte aus Oftringen oder Bad Zurzach, Wettingen oder Meisterschwanden, aus Derendingen oder Zürich, Hitzkirch oder Bern die Präsentationen ihrer Kolleginnen und Kollegen. Eine Lehrerin, Anfang zwanzig, stellt das Thema „Jugendsprache“ vor. Ihr Kollege, Ende fünfzig, fragt interessiert und kritisch nach.

Klassen an Aargauer Volksschulen sind ähnlich heterogen zusammengesetzt wie die Kursgruppe „Sprachwelt Deutsch“, wenn auch unter anderen Aspekten: eher leistungs- als altersmässig; eher (mutter)sprachlich als regional. Aber sind die Anliegen der Beteiligten nicht letztlich dieselben, ob für neun Kursstunden oder neun Schuljahre: verständnisvoller Umgang mit Verschiedenheit, individualisiertes Lehren und Lernen, gegenseitige Unterstützung?

Nach dem Kurs gehe ich auf Schulbesuch bei einem Kursteilnehmer. Über der Eingangstüre steht in Helvetica-Schrift „Es ist normal, verschieden zu sein“, in Sandstein gemeisselt. Im Schulzimmer werden die Kinder bei ihrer Bildung so individuell unterstützt wie ihr Lehrer bei seiner eigenen Weiterbildung. Die Kinder ihrerseits sind selbstständig und wissbegierig wie ihr Lehrer. Als dieser einen Fragebogen zur Beurteilung seines Unterrichts an die Kinder verteilt, erwache ich unter dem Sheddach.

Markus Kirchhofer ist Lehrer und Autor aus Oberkulm. Seit zehn Jahren leitet er Kurse für Lehrerinnen und Lehrer.