Hommage à Martin Meyer

Am 11. September eilte ich vorzeitig aus der Lehrerkonferenz, um rechtzeitig nach Lenzburg zu gelangen. Auf dem Fussweg vom Parkplatz aufs Schloss wurde alles wieder präsent: Der Arbeitsort mit Weitblick nach Norden und Westen, die Diskussionen zu Kulturprojekten oder -leitbildern, die Tagungen zu Leseförderung oder Menschenrechten, die Theateraufführungen im Alten Gemeindesaal oder im Ritterhaus. Und mitten in diesen Erinnerungen das offene Gesicht mit den neugierigen Augen, umrahmt von den schlohweissen Resthaaren: Martin Meyer.

Das erste Mal bin ich ihm vor einem halben Leben beim Vorstellungsgespräch begegnet.  Durch den Schnee stapfte ich aufs Schloss, für meine Bewerbung als vollamtlicher  „Mitarbeiter/Assistent Stapferhaus Schloss Lenzburg / Forum Helveticum“ nur mein HPL-Studium und meine Härdöpfuchäuer-Erfahrung im Rucksack. Das letzte Mal sah ich ihn vor gut einem halben Jahr im Gewölbekeller des Lenzburger Müllerhauses, in der Ausstellung „Vom Comic zur Bildgeschichte“.

Martin Meyer war warmherzig und selbstironisch wie immer: „Ich wäre auch zu deiner Vernissage gekommen, wenn man mich auf der Bahre hätte hertragen müssen“, flachste er. Kaum zwei Monate später erhielt ich seine Todesanzeige. Am 11. September lud das Stapferhaus, dessen Geschicke Martin Meyer mehr als dreissig Jahre lang leitete, zur Erinnerungs- und Abschiedsveranstaltung „anwesend abwesend“.

Zahlreiche Weggefährten und –gefährtinnen erinnerten mit Reden und in Gesprächen an den Philosophen, der mit 26 an der Uni Zürich zum Thema „Der Begriff der Freiheit im Denken von Alexis de Tocqueville“ promovierte. Als ich 26 war, schenkte Martin Meyer mir Karl Jaspers „Die massgebenden Menschen“. Schwindlig von den philosophischen Höhenflügen, hielt ich mich fest an einem Satz zu Martin Meyers Dissertationsthema Freiheit: „Von den grossen Menschen geht die Kraft aus, die uns wachsen lässt durch unsere eigene Freiheit; sie erfüllen uns mit der Welt des Unsichtbaren, deren erscheinende Gestalten durch sie entdeckt, deren Sprache durch sie hörbar wird.“

Der 11. September war ein lauer Spätsommertag und etliche der Gäste blieben im französischen Garten der Burg sitzen, assen Häppchen, tranken Rotwein und tauschten Erinnerungen aus. Mit sinkender Sonne und steigender Gesprächsintensität wurde Martin Meyers Gesicht hier und dort kurz sichtbar, seine Stimme hörbar, am deutlichsten sein Lachen.

Letzte Woche habe ich sein Grab auf dem Lenzburger Friedhof aufgesucht, in der Jackentasche die März-Ausgabe der Zeitschrift „r-evolution“. Wenige Tage nach Martin Meyers Tod erhielt ich sie per Post, in seinem Auftrag. Herausgeberin ist die dem aufgeklärten Humanismus verpflichtete „Initiative für eine nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“. In der Zeitschrift werden vielfältige Antworten auf die einfältige Finanzkrise gesucht: Moderne, alternative Verrechungs- und Zahlungssysteme, neue Geld- und Bodenordnungen, Genossenschaftsgeldkreisläufe.

Im Untertitel von „r-evolution“ stehen fünf Adjektive, die auch für Martin Meyers Leben und Wirken stehen könnten: friedlich, mitmenschlich, gerecht, nachhaltig, selbstbestimmt. Sein Grab habe ich erst nach langem Suchen gefunden: Eine schlichte Urnenplatte mit seinem Namen und seinen Lebensdaten. „Servir et disparaître“ war schon immer sein Motto.

Markus Kirchhofer ist Lehrer und Autor aus Oberkulm. Von 1986 bis 1991 war er Mitarbeiter von Martin Meyer.